Donnerstag, 25. September 2008

Wo ist mein Vater?

„Martina, sitzt du schon wieder an deinem Computer?“ „Ja, Mama.“ Martina nutzte jede Gelegenheit sich mit ihrem Computer zu beschäftigen, den sie vor zwei Jahren zu ihrem 12. Geburtstag von ihrem Vater bekommen hatte. Ja, von ihrem Vater. Gesehen hatte Martina ihren Vater noch nie. Das einzige, was sie von ihm wusste, war, dass er Roland Scherrer hies und dass er ihre Mutter verlassen hatte - damals als diese schwanger war.

Die Mutter betrat das Zimmer und fragte: „Martina, hilfst du mir bitte das Abendessen vorzubereiten?“ „Muss das sein? Ich bin mitten in einem Chat!“, antwortete Martina. „ Ja, das muss sein! Ausserdem sitzt du viel zu oft am Computer. Es wäre besser, du erledigst deine Hausaufgaben. Du sitzt sogar lieber am Computer anstatt dich mit Freunden zu treffen. Das muss sich ändern!“ „Ist ja gut, ich komme“, murrte Martina verärgert und schaltete ihren Computer aus.

Während des Abendessens fragte Martina ihre Mutter wie so oft: „Wo ist wohl mein Vater?“ Wie immer bekam sie auf diese Frage die Antwort: „Das kann ich dir nicht sagen, weil ich es nicht weiss.“ Nachdem sie fertig gegessen hatten, verschwand Martina wieder an ihren PC. Plötzlich hatte sie eine Idee! Sie klickte sich in die Google-Startseite und hackte hastig “Elternsuche“ in die Tasten. Da erschienen hunderte von Links, zum Teil auch ganz unpassende. Da! Auf einer Zeile las Martina: „Suchst du deinen Vater? Kinder aus der ganzen Welt suchen hier ihre Väter…. .“ Martinas Herz begann heftiger zu schlagen. Mit feuchtkalten Händen ergriff sie die Maus und klickte diese Zeile an. Auf der Seite, die sich öffnete, las Martina über Kinder, die ihren Vater oder ihre Mutter nicht kannten und sie auf diesem Weg gefunden haben. Zuunterst entdeckte sie eine E-Mail-Adresse für Suchanzeigen. An diese Adresse schrieb sie:


Hallo, mein Name ist Martina Kruger. Ich bin 14 Jahre alt und suche meinen Vater. Ich kenne ihn nicht, denn ich habe ihn noch nie gesehen. Bis vor zwei Jahren hat er mir jeweils zu meinem Geburtstag ein Geschenk ohne Absender geschickt. Von meiner Mutter konnte ich nichts über ihn erfahren. Ich weiss nur, dass er Roland Scherrer heisst.Wer etwas über meinen Vater weiss, soll sich bitte bei mir melden! Martina (E-Mail: mar.tina @lu.gr)“

Ihrer Mutter erzählte Martina nichts davon. Vielleicht wollte sie ja gar nicht, dass sie Kontakt zu ihrem Vater hatte. Martina schaltete ihren Computer aus und ging ins Bett. Es war schon fast Mitternacht. Sie drehte sich von einer Seite auf die andere und konnte nicht einschlafen. Ihre Gedanken drehten sich wirr im Kopf herum. Wie würde es wohl sein, wenn er plötzlich vor ihr stünde? Was würde sie fühlen? Wie würde sie reagieren? Was würde er sagen…. Irgendwann fiel Martina doch noch in einen unruhigen Schlaf.

Als sie am nächsten Morgen erwachte, dachte sie als erstes schon wieder an ihren Vater. Sie fühlte sich noch müde. Trotzdem schoss sie aus dem Bett und drückte auf den Schalter ihres Computers. Enttäuscht fand sie unter den E-Mails nur eine Nachricht von ihrer Freundin Lara.

Martina schlurfte in die Küche. Sie hatte keinen Appetit und trank daher nur eine Tasse heisse Schokolade. Sie schwang sich den Schulsack auf den Rücken und eilte zur Schule. Im Unterreicht bekam sie nicht mit, was die Lehrer sagten. Sie versank in ihren Gedanken. Nicht einmal ihre besten Freundinnen konnten sie aufmuntern. In ihrem Gesicht widerspiegelte sich Abwesenheit. Auf nichts hatte sie Lust. Immer noch keine Nachricht! Die Tage vergingen, ohne
dass etwas Besonderes geschah. Keine Nachricht, nichts!

Endlich, an einem Mittwochnachmittag öffnete Martina ihre langersehnte E-Mail-Nachricht. Die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen. Es lief ihr heiss und kalt den Rücken hinunter. Würde sich mit dieser Nachricht ihr Leben verändern?

Wie hypnotisiert verschlang sie die Worte:

„ Liebe Martina, deine Mutter und ich haben uns etwa drei Jahre vor deiner Geburt kennengelernt. Aus einem ganz bestimmten Grund, den ich dir nicht erklären kann, musste ich sie verlassen. Das Schlimmste daran war, dass gerade da deine Mutter schwanger war! Es ist mein grösster Wunsch, dich einmal zu sehen, doch es geht nicht. Es tut mir schrecklich leid, auch ich bin unendlich traurig darüber! Mit lieben Grüssen. Dein Vater“

Martina las die Nachricht immer und immer wieder. Dann begann sie laut zu schreien. Sie schrie sich fast die Lunge aus dem Leib. Sie war so wütend! Weshalb hatte ihr Vater denn nicht geschrieben, warum er sie nicht sehen kann! Er hätte doch sagen können, wo er wohnt, doch nicht einmal das hatte er getan! Warum denn nicht, verflixt nochmal? Sie musste es herausfinden!

Sie zog ihre Schuhe an, holte ihr Fahrrad aus der Garage und fuhr ziellos umher. Das machte sie immer, wenn sie nachdenken musste. Sie konnte sich so am besten konzentrieren. Martina überlegte, wie sie herausfinden könnte, wo ihr Vater steckte.

Es dauerte nicht lange, da hatte sie eine Idee. Vor einem halben Jahr besuchte sie doch einen Computerkurs. Dort hatte sie gelernt, wie man herausfindet, von wo und von wem eine E-Mail-Adresse gesendet wird. Sofort radelte sie zurück nach Hause.

In ihrem Zimmer durchstöberte sie jede Schublade, jeden Schrank und jede Kommode, bis sie endlich fand, wonach sie suchte: Die Anleitung! Jetzt musste sie nur noch ausführen, was da stand und…. sie schaffte es. Nun wusste sie, woher das E-Mail gesendet worden war. Sie konnte es kaum fassen! Ihr Vater wohnte also nur vier Strassen weiter in Richtung Stadt! Sie musste ihn sofort besuchen. Nervös rannte sie zu ihrem Fahrrad in die Garage und machte sich auf den Weg zu ihm, zu ihrem unbekannten Vater.

Doch Martina hatte sich zu früh gefreut. Die Adresse war die eines Internet-Cafés! Martina war unendlich enttäuscht. Sie hatte sich so grosse Hoffnungen gemacht und nun war alles zerschlagen. Trotzdem wagte sie sich ins Cafe. Sie schaute sich kurz um, dann fragte sie die Wirtin: „Können Sie mir vielleicht sagen, ob in den letzten Tagen ein Mann namens Roland Scherrer einen ihrer Computer benützt hat?“ „Aber natürlich“, versprach die Frau „ich schau mal kurz nach.“ Nach wenigen Minuten erklärte die Wirtin: „Gestern war ein Roland Scherrer hier“. Die Frau zeigte Martina, an welchem Computer er gesessen hatte. Da schaute sich Martina den Computer an. Vielleicht fand sie ja einen Hinweis. Und tatsächlich: Unter der Tastatur steckte ein kleiner Zettel!

Darauf las sie:
„Ich weiss, dass du, Martina, diese Zeilen lesen wirst. Ich habe eine Bitte: Versuche nicht mich zu finden! Es wird dir nur Unglück bringen! In Liebe, dein Vater!“